Ein Logiker unter den Nazis ============================================================================= Der geniale Gelehrte Gentzen war vor allem naiv. Der brillante Logiker Gerhard Gentzen wurde vom Hitler-Regime nicht ueberfallen. Seine wissenschaftliche Bluete lief parallel mit der Partei. Der weltfremde Gelehrte war wie Wachs in den Haenden der Nazis. Den Untersuchungen ueber das Dritte Reich und die Wissenschaften wurde ein wichtiges Buch aus den Haenden von Eckart Menzler-Trott hinzugefuegt, das mehr oder weniger zwei Hauptthemen hat: die Biographie von Gerhard Gentzen und das Schicksal der (mathematischen) Logik unter den Nazis. Das wirkliche Verhaeltnis der exaktesten Wissenschaft zu den unleugbar obskuren Auffassungen des Nationalsozialismus wird wohl immer ein Raetsel bleiben. Wer die Laufbahn von Gelehrten unter autoritaeren Systemen betrachtet, stellt schnell fest, dass es drei Hauptsorten gibt: die Gegner, die Angepassten und die Befuerworter. Die letzteren lassen sich noch aufteilen in Glaeubige und Opportunisten. Von diesen geben die Glauebigen den meisten Stoff zum Nachdenken und Erstaunen. Wie kann ein Mathematiker mit hoher Auffassung ueber Exaktheit und fundamentale Probleme wackelige Ideologien und Staatsphilosophien schlucken oder sogar verteidigen? Die plausibelste Erklaerung scheint zu sein, dass Wille und Vernunft ihren eigenen Weg gehen und einander kaum hindern. Die Nazi-Gelehrten hatten gewisse Gefuehle und Ressentiments (Versailler Vertrag, Bolschewismus, Blut und Boden, internationale juedische Verschwoerung), die der Rationalitaet ausserhalb ihres Fachgebietes im Wege stand. Eckart Menzler-Trott, der Autor der Gentzenschen Biographie, kommt nach einer Analyse der historischen Umstaende zum Ergebnis, dass durch das Fehlen einer Naziphilosophie fuer die Mathematik die mehr theoretisch eingestellten Mathematiker doch noch ein gewisses Mass an Freiheit hatten, die die angewandten Mathematiker entbehren mussten. Andererseits gab es die rabiaten Nationalsozialisten wie die Philosophen Steck und Dingler, die einen regelrechten Guerillakampf gegen die daheim gebliebenen Logiker fuehrten. In diesem Klima suchte der brillante Logiker Gentzen seinen Weg. Er war 1909 in Greifswald geboren als Mitglied einer Altersgruppe, die die zukuenftige Fuehrungsschicht des Dritten Reiches lieferte. Er wurde nicht in der Haelfte seiner Karriere vom NS-Regime ueberrascht, sondern seine aufbluehende Karriere als Logiker verlief parallel zum Aufschwung der Partei. Seinen logische Identitaet fand Gentzen in Goettingen, wo der grosse Hilbert am Ende seines Lebens noch immer als Symbol fungierte, waehrend die Arbeit von seinen begabtesten Schuelern getan wurde, vor allem von Paul Bernays und Herrman Weyl. Gentzen begann seine Laufbahn als der niederlaendische Mathematiker Brouwer aus dem Rampenlicht verschwunden war. Die logische Welt war faktisch eine Domaine der Hilbert-Anhaenger geworden, der Formalisten. Goedel hatte jedoch 1931 dem Hilbert-Programm den Todesstoss gegeben und diesen sicheren Zusammenbruch konnten die Hilbertianer nicht mehr leugnen. Gentzen war in jeder Hinsicht ein Exponent der neuen Generation. Eine Generation, die angefangen hatte zu verstehen, dass Goedel nicht das Ende der Logik war, sondern der Anfang eines neuartigen und reichen Lebens des Faches bedeutete. Gentzen befand sich ploetzlich an der Spitze des Fachgebiets als er geniale Methoden entwarf, um die Logik zu praktizieren, die des natuerlichen Schliessens und Sequenzenkalkuels. Mit Hilfe dieser Methoden sah er Chancen, das zu tun, was nach Goedel noch zu tun war. Er ging der Sache ganz genau nach, um Widersprueche in der Arithmetik auszuschliessen. Das Praedikat "genial" ist hier richtig am Platz. Wer die Arbeiten betrachtet, die die Hilbert-Schule in diesen Tagen produzierte (um es anachronistisch zu sagen, ein "Paradies der Hacker"), der wird Gentzens Methode wie ein Wunder der Schoenheit erfahren. Aussenseiter denken sehr schnell bei Logik (und Mathematik) an eine langweilige Arbeit fuer Trauerkloesse, aber man kann mir auf mein Wort glauben, dass man es hier zu tun hat von einer Schoenheit von fast symphonischen Format. Also, Gentzen, zusammen mit seinem Vorgaenger Goedel, fuegten der mathematischen ein Element der Schoenheit hinzu, die einem Michaelangelo oder DaVinci zur Ehre gereicht haetten. Gentzen, der ohne viel Aufsehens das Zeitalter Hilberts ins Museum geschickt hatte, war der gesellschaftspolitischen Entwicklung seiner Zeit nicht gewachsen. Fuer ihn war die politische Entwicklung so etwas wie das Wetter. Es passiert halt und man kann nichts daran aendern. Die vollkommene Arglosigkeit mit der Gentzen die Politik behandelte, oder eigentlich "negierte", zeigt sich an einer Postkarte, die er 1934 an seinen vormaligen inoffiziellen Begleiter Bernays schickte. Bernays hat Gentzen auf seinem Weg zur Dissertation begleitet, und Hermann Weyl, der Nachfolger Hilberts, war sein Doktorvater. Nach der Machtuebernahme war Bernays, Spross eines beruehmten juedischen Geschlechts, entlassen worden. Schliesslich wurde er Professor in Zuerich. Die Postkarte an Bernays enthielt neben etwas technischem Inhalt auch die folgende kuriose beilaeufige Mitteilung: "Ich bin auch in die SA eingetreten, da es mir von verschiedenen Seiten dringend angeraten wurde." Eine derartige Nachricht an einen unfreiwilligen Emigranten zeugt entweder von aeusserster Plumpheit oder von unglaublicher Naivitaet. Aus dem, was der Autor an Material zutage gebracht hat, muss man sich fuer das Letztere entscheiden. Gentzen sah in seiner Mitgliedschaft in der SA kein einziges Hindernis fuer die Pflege guter Beziehungen mit Emigranten oder franzoesischen Antifaschisten. 1941 schrieb er, dass Goedel der beste Mann waere fuer die Besetzung zukuenftiger Stellen in der Logik in Deutschland. Und obwohl jeder wusste, dass Goedel nach Amerika geflohen war und ueberhaupt nicht daran dachte, zurueckzukehren, schreibt Gentzen in dem gleichen Brief, dass in 1939 Goedels Wiener Position noch beim Minister in Bearbeitung war. Im Kapitel "Der Kampf um eine "Deutsche Logik" von 1940 bis 1945" geht Menzler-Trott detailliert ein auf den inneren Streit, die Intrigen und die Naziideologie. "Wirrwarr, Eitelkeit, Ehrgeiz, Rivalitaet, Reibereien sind Kennzeichen der Wissenschaftspolitik des Nationalsozialismus." Auf diesem Gebiet war eine Linie nicht festzustellen. So sprach der Reichsminister fuer Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Rust: "Das deutsche Volk verlangt nicht nach einer Wissenschaft, die nur nachredet, was die politische Fuehrung fuer richtig erkannt hat." Dem entgegen Minister Goebbels: "Man stelle sich vor, der Herr Kritiker A. naehme eine ablehnende Haltung ein bezueglich irgend einer Sache, von deren Wert, er, der Minister ueberzeugt ist. (...) Er wuerde sich dann nicht wundern duerfen, wenn ploetzlich vor seinem Fenster einige 100 SA-Maenner stehen und rufen: "Heraus, Du Saboteur!". Zahlreiche Beispiele zeigen, dass es innerhalb bestimmter Grenzen noch genuegend Raum fuer abweichende Meinungen gab. Im allgemeinen muss gesagt werden, dass philosophische Reden parteilicherseits fast immer amateurhaft und schlecht informiert waren. Menzler-Trotts Buch ist ausserordentlich reich an Details und Einsicht, er skizziert einleuchtend, in welchem Milieu Gentzen ueberleben musste. Stark von Gesundheit war Gentzen uebrigens nicht. Er war seit 1939 Flugmelder bei der Luftabwehr, war aber dem militaerischen Leben nicht gewachsen und wurde 1942 aus dem aktiven Dienst entlassen. Gentzen fand sein Ende in Prag, wo er seit 1943 an der Deutschen Universitaet arbeitete. In der festen Ueberzeugung, niemandem etwas zuleide getan zu haben, weigerte er sich bei der bevorstehenden Befreiung Prag zu verlassen. Was auch von Einfluss gewesen sein kann ist, dass der deutsche Befehlshaber versprochen hat: "Wer mit dem Gesicht nach Westen angetroffen wird, wird sofort erschossen!" Gentzen wurde, wie man erwarten konnte, verhafted. Der naive apolitische Gelehrte ueberlebte die Gefangenschaft in der Prager Zelle nicht. Menzler-Trott hat ein monumentales Werk abgeliefert, randvoll mit Informationen ueber einen weltfremden Gelehrten in einem Reich von Verrueckten, Phantasten und Volksbetruegern. Fachleuten werden vielen alten Bekannte begegnen, Aussenstehende koennen sich ueber den bescheidenen Erfolg der Mathematiker wundern, wenigstens den schlimmsten Wahnsinn ausserhalb ihrer Reichweite zu halten. Das Buch ist reich an Quellenmaterial, groesstenteils gesehen mit den Augen eines Historikers, der selbst ausserhalb der Materie bleibt. Jan von Plato verfasste einen Anhang ueber Gentzens Beweistheorie. Autor: Dirk van Dalen (em. Prof. der Mathematik an der Universitaet Utrecht; Autor zahlreicher einflussreicher Arbeiten zur Mengenlehre, mathematischen Logik, Beweistheorie und philosophischen Grundlagen der Mathematik, darunter: "Logic and Structure", 3rd ed. Springer Publ. New York 2001, und "Mystic, Geometer, and Intuitionist. The Life of L. E. J. Brouwer", Clarendon Press: Oxford 1999) Erschienen in: NRC Handelsblad (Rotterdam), 13./14. Juli 2002, Wetenschap & Onderwijs, p. 33. Aus dem Niederlaendischen ins Deutsche uebersetzt von Stephane Gommeren, Eckart Menzler-Trott und Jan Boon. Redaktion: W. Rautenberg